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Dose 13 - Schneekugel-Feelings

Veröffentlicht am 22.12.2019

Fast hatte ich mich damit abgefunden, ein trostloses Weihnachtsfest in Philadelphia zu verbringen. Ich würde in der kaltfeuchten Dose vor mich hin gammeln und von besseren Zeiten träumen. Aber dann kam Abigail! Die kanadische Geocacherin musste ich nicht einmal mental beeinflussen. Sie nahm mich aus freien Stücken mit nach Kanada, weil sie mich so cute fand …

Abigail ist eine ältere Dame mit ausgeprägtem Faible für weihnachtliche Kreaturen – je kitschiger desto besser. Und so finde ich mich nach langem Flug und mehrstündiger Autofahrt auf der Fensterbank ihres Hauses wieder. Um mich in ihr weihnachtliches Figurenkabinett zu integrieren, hat sie mir eine rote Zipfelmütze über die Plüschohren gezogen - wofür ich ihr echt dankbar bin. Denn so höre ich nur noch gedämpft, wenn die Mini-Plastik-Tanne links neben mir anspringt und ein blechernes White Christmas schmettert. Weil sie dazu fröhlich im Takt mit ihren stacheligen Hüften wackelt, bewegt sie sich jedes Mal ein Stück in meine Richtung und schiebt mich näher an das rotnasige Rentier zu meiner Rechten, das wiederum an eine Gruppe mit Glimmer bestäubte Puttenengel stößt. Bunte Lichterketten tauchen unsere langsame Gruppenwanderung in Dauerblinken. Aber ich will mich nicht beschweren – wirklich nicht! Denn besser als die Feiertage mit klammem Pelz in einer engen, unbeheizten Dose zu verbringen, deren Ränder womöglich zugefroren sind, ist es hier allemal.

Wie kalt es in Kanada ist, bekam ich nämlich schnell zu spüren, gleich nachdem wir in Calgary aus dem Flieger gestiegen waren. Beißende Schneeluft drang im Nu durch den Stoff der Manteltasche, in der ich steckte. Weil ich vor Neugierde nahezu platzte – immerhin war ich noch nie in Kanada gewesen – probierte ich einen mentalen Stupser bei Abigail. Doch statt mich herauszuholen, schob sie eine Taschentuch-Packung über mich, die mich noch tiefer versenkte. Nach Wochen des Nichtstuns, waren meine mentalen Fähigkeiten offenbar eingerostet. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mit verdrehten Gliedern auszuharren und es weiter zu versuchen. Vom Flughafen und der Stadt kann ich daher nichts berichten. Aber als Abigail auf der Weiterfahrt einen Tankstopp einlegte, hatte ich sie soweit: Sie tastete nach ihrem Geldbeutel und griff stattdessen mich. Und als sie ihren Wagen zurück auf die Straße lenkte, hing ich bereits am Rückspiegel und genoss die Aussicht. - Und was für eine!

Vor einem klaren Himmel erhoben sich die schneebedeckten Gipfel der Rocky Mountains. Überhaupt lag Schnee, wohin man auch blickte. Schneewehen türmten sich am Straßenrand, die Äste der Bäume hingen schwer unter der weißen Last. War ich mitten in einer Schneekugel gelandet? Ich rechnete jeden Moment damit, dass wir mitsamt der Landschaft angehoben und durchgeschüttelt werden würden. Später, als es schon dämmerte, meinte ich im Schneegestöber sogar die Silhouette eines Bären zu erkennen. Aber das kann auch ein Traum gewesen sein.

Es war schon dunkel, als wir den Ort erreichten, in dem Abigail wohnt. Schon von Weitem konnte man die Lichter sehen. Ach was: Ein gigantischer Leuchtnebel lag über den Häusern. Und je näher wir kamen, umso heller und bunter wurde es: Lichterketten blinkten von Dächern und Hausfassaden, in den Vorgärten tummelten sich Rentierschlitten, Weihnachtsmänner und Engel, die nicht nur leuchteten sondern sich nicht selten auch noch bewegten. Das Auto rumpelte über schneebedeckte Nebenstraßen, was mich in heftige Schwingungen versetzte. Dann drehte ich mich auch noch, bunte Lichter flitzten vorbei  – ein Gefühl wie eine rasante Karussellfahrt auf dem Rummelplatz. Wir hielten vor Abigails Haus. Es blinkte mit den Nachbarhäusern um die Wette.

Fast wäre ich im Auto geblieben, aber als mein Drehwurm abgeklungen war, konnte ich Abigail dazu bewegen, nicht nur ihr Gepäck sondern auch mich ins Haus zu bringen. Und nun sitze ich hier. Mein Pelz juckt unter der Mütze. Die singende Tanne rückt näher. Ich konzentriere mich … und plötzlich ist es ganz leicht. Ein winziger Stupser genügt, die Tanne wechselt die Richtung, rutscht über die Kante der Fensterbank und kippt. Ein Bersten ist zu hören, ein letztes Plärren, dann nichts mehr. Aus dem Augenwinkel meine ich zu sehen, dass der rotnasige Rudolph breiter grinst als ohnehin schon. Aber das bilde ich mir sicher nur ein.

Holz knackt leise im Kamin. Es duftet nach dem Harz der echten Tanne, deren Äste unter Tand und Glitter ächzen. Vor den Fenstern hängen Eiszapfen. Sie spiegeln den zuckenden Schein der Lichterketten. Draußen wirbeln dicke Flocken vorbei. Schneekugel-Feeling. Träge lasse ich imaginäre Augenlieder sinken und träume ein bisschen.

 

Frohe Weihnachten wünscht euch

Euer Rodriguez!

 

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