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Dose 10 - Der menschliche Oralismus

Veröffentlicht am 06.08.2019

[19.9.-30.9.2017 – Boston Massachusetts]

Dass die orale Phase ab dem Kleinkindalter vorbei sein soll ist blanker Unsinn, finde ich. Zwar hört der Mensch im frühen Kindesalter auf, jeden Gegenstand mit dem Mund zu betasten, sein Dasein ist aber immer noch oral bestimmt. Essen zum Beispiel dient nicht nur zur Lebenserhaltung, sondern auch dem Lustgewinn. Raucher befriedigen ihre Sucht, indem sie an einer Fluppe ziehen, andere saugen an Flaschen. Und dann gibt es noch diejenigen, die immer etwas zum Lutschen brauchen. In Bens Brusttasche etwa, steckt neben mir nur noch ein letztes Bonbon im zerknüllten Papier, das so intensiv nach Minze riecht wie sein Atem. Ben ist nämlich ein klassischer Panik-Lutscher. Viel zu früh strampelt er per Rad zu dem Treffpunkt, den er mit Lucy vereinbart hat, und lutscht, was das Zeug hält …

Als ich einen Blick auf den Namen der Straße erhasche, in die Ben einbiegt, überkommen mich glatt Heimatgefühle: Ben stoppt tatsächlich in der Hanover Street! Bei Mike's Pastry wartet er auf Lucy. Seiner Meinung nach gibt es dort nämlich die besten Cannoli der Stadt, erklärt er ihr. Und als Ben kaum die Augen von Lucy lassen kann, wie sie das mit Ricotta-Creme gefüllte Gebäck verspeist, bestätigt sich meine Theorie ein weiteres Mal: Irgendwann mündet der menschliche Oralismus unweigerlich ins Küssen, und das will Ben in diesem Augenblick unbedingt. Ich merke ihm an, dass er Lucy die süße Creme am liebsten vom Mundwinkel lecken würde, doch obwohl ich ihn mental dazu ermutige, traut er sich am Ende doch nicht. Na gut. Vielleicht ist es auch noch zu früh dafür. Also ziehen die beiden erst Mal los, um ihren ersten Cache zu heben. Dass Ben sich die Geocaching App gestern Abend schon heruntergeladen und heimlich geübt hat, erzählt er Lucy natürlich nicht.

Alles läuft nach Plan, und bald hat der Geocaching-Virus auch Ben und Lucy im Griff. Bis zum Abend sind sie mit ihren Rädern unterwegs und loggen einen Cache nach dem anderen. Vom North End, dem ehemaligen italienischen Viertel, geht es über den Financial District nach China Town und dann über Back Bay in den Boston Public Garden. Und dort, unter ehrwürdigen alten Bäumen, passiert es endlich! Keine Ahnung, wer von den beiden als erster die Kontrolle verliert. Wer wen zuerst küsst ist eigentlich auch egal. Jedenfalls werde ich bei der Urgewalt, mit der die Lucy und Ben aufeinanderprallen, in seiner Jackentasche fast zerquetscht. Dazu hämmert Bens Herz durch den Jeans-Stoff, als hätte er einen Hundert-Meter-Sprint absolviert. Als sie sich endlich voneinander lösen, hat sich das letzte Pfefferminzbonbon tief in meinen Plüsch gedrückt. Was erträgt man nicht alles für die Liebe …

Bevor das Cachen vollkommen zur Nebensache wird und sie mich womöglich noch vergessen, schicke ich Ben einen mentalen Stupser. Zeit, sich verabschieden … Die nächste Dose ist groß genug. Als Lucy mich darin verstaut, wirft sie mir verstohlen eine Kusshand zu und wünschte mir eine gute Reise. »Danke, du Glücksbär«, wispert sie, dann schließt sich der Deckel über mich. Einmal noch höre ich die beiden lachen, dann wird es still in der Dose.

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